17 | 11 | 2021
Von Menschen für Menschen
Einblicke ins Atrium, die Tagesstätte des Basler Wirrgarten
Demenz kann viele Formen der Erkrankung aufweisen. Die Tagesstätte Atrium des Basler Wirrgarten ist ein Ort für Betroffene, die eine intensive demenzspezifische Betreuung beanspruchen. Dies, weil sie zum Beispiel weglaufgefährdet oder speziell früh erkrankt sind und teilweise Verhaltensveränderungen aufweisen. Ein Einblick in eine Einrichtung, die auf die unterschiedlichsten Bedürfnisse Demenzerkrankter ausgerichtet ist.
Mithelfen und Mitbestimmen
Acht der neun angemeldeten Tagesgäste sitzen entspannt im Wohnzimmer, dem Herzstück des Atrium. Die einen haben einen Kaffee vor sich stehen, andere halten die Zeitung in der Hand und wieder andere sitzen einfach da und kommen an. Der neunte Tagesgast ist bereits in der Küche. Frau Wismer* hat ihr Leben lang in Grossküchen gearbeitet. «Ich kann nicht den ganzen Tag rumsitzen, das ist nichts für mich», so Frau Wismer. Sie weiss die Vorzüge ihrer Rolle zu schätzen: «Wenn ich mithelfe, kann ich auch mitentscheiden.» Und so hat sie an ihren Tagen den Fenchel vom Speiseplan verbannt. «So gruusig», wie sie findet. Als Ersatz möchte sie lieber Kohlrabi.
Insgesamt sind es 17 Menüs, die von einer Betreuerin und der routinierten Küchenhilfe für das Mittagessen frisch zubereitet werden. Frau Wismer ist zweimal pro Woche Tagesgast im Atrium. An diesen Tagen ist sie fest in der Küche eingeplant. An den anderen Tagen hilft eine andere demenzbetroffene Person mit, die ihren eigenen Hintergrund und Vorlieben mitbringt. Daniela Meister, Betreuerin in der Küche, weiss aus Erfahrung: «Ich stelle mich jeden Tag auf die anwesenden Tagesgäste ein und passe das Menü entsprechend an. Einige Zutaten kann man leicht ändern und natürlich schau ich auch immer, dass die Arbeitsschritte nicht zu kompliziert sind.»
Personenzentriertes Angebot
So unterschiedlich wie die Tagesgäste im Atrium, so vielfältig sind die Demenzformen und Krankheitsverläufe. Vereinzelte Betroffene stehen noch vor ihrem 60. Geburtstag, während die meisten gegen 80 sind. Bei einigen ist das Sprachzentrum angegriffen, andere verlieren die Kompetenz, sich in Gruppen zu bewegen. Einige Tagesgäste sind so müde, dass sie viele Pausen benötigen, andere wiederum gehen auf mehrere Spazierrunden und sind sehr unternehmungslustig.
Spaziergänge sind als Aktivierung bei jedem Wetter fest eingeplant. Andere Angebote wie die Mithilfe bei der Wäsche, beim z’Nüüni oder im Garten, aber auch die Malwerkstatt können genutzt werden. Die Angebote im Atrium richten sich nach dem personzentrierten Ansatz von Tom Kitwood, bei dem die Grundbedürfnisse der Betroffenen im Zentrum stehen. Gertrud Diepolder, Leiterin der Tagesstätte, weiss: «Die Grundbedürfnisse nach Liebe und Gebrauchtwerden bleiben den demenzerkrankten Tagesgästen erhalten. Ihre Krankheit hat ihnen aber die Strategie genommen, sich diese selber zu erfüllen. Wir schauen, wie wir helfen können und ermöglichen, wo Handlung verloren geht.»
Wohlwollende Führung
Zwei Tagesgäste folgen Pesche Hürlimanns Einladung in den Klangraum, den er als Experimentierfeld für Klang, Rhythmus und Bewegung eigens im Atrium eingerichtet hat. Beide Tagesgäste besuchen und erfahren diesen Ort zum ersten Mal. Während Frau Müller gleich zur Rassel greift, steht Herr Bürki noch länger da und staunt. Der Klangexperte begleitet ihn aufs Sofa und bietet ihm eine Meerestrommel an. Herr Bürki neigt diese in seinem Schoss langsam hin und her. Nach konzentrierter Stille bemerkt er: «Ich höre das Meer rauschen.»
Die Interaktionen zwischen den Tagesgästen und den Betreuer*innen im Atrium erfolgen durch Abwägen, Beobachten und Zustimmung der Demenzbetroffenen. «Wohlwollende Führung» nennt es Pesche Hürlimann, womit er die Tagesgäste auf eine Klangreise schickt. Nach der Rassel greift Frau Müller zum Kotamo, es folgen Experimente mit dem Xylophon und zuletzt fasst sie zu Glocken, die Erinnerungen an Ziegen auf Bauernhöfen wecken. Zwischen den akustischen Annäherungen mit den Instrumenten wandert ihre Hand immer wieder an das Amulett, das sie um den Hals trägt, als würde es Schutz und Sicherheit bieten inmitten all den unbekannten Reizen. Eine halbe Stunde später ruhen sich die beiden Tagesgäste zufrieden im Wohnzimmer aus.
Sinne beleben und Natur wahrnehmen
Es ist Zeit für ein z’Nüüni oder besser gesagt, ein «Assortiment de z’Nüüni»: Auf jedem Teller gesellen sich ein Stück Kuchen, zwei Brezel sowie je zwei Stücke Apfel und Banane so zusammen, dass ein Ornament oder eine abstrakte Figur entsteht. Frau Keller hat sie liebevoll zusammengestellt und meint: «Ich mag es einfach, wenn die Sachen schöngemacht sind. Da spielt meine Fantasie mit. Wie früher bei den Blumen. Hier kann ich das wieder machen.» Frau Keller war Floristin und hilft im Atrium auch gerne im Hof bei den Pflanzen und deren Pflege.
Das Angebot im Atrium richtet sich nach den Sinnen. Im Hof oder bei Spaziergängen kann die Natur wahrgenommen werden: Klänge, Töne, Geschichten, Gerüche, Düfte und Bilder regen alle Sinne der Tagesgäste an. Das erlebnisorientierte Angebot ist auf aktive und passive Phasen ausgerichtet. Es stehen ausreichend Liege- und Ruhemöglichkeiten zur Verfügung, die jederzeit genutzt werden können. Zwischendurch schlummert ein Tagesgast auf dem Sofa oder im Sessel. Nicht so Frau Wismer aus der Küche: Sie reserviert sich schon am Morgen direkt bei ihrer Ankunft im Atrium ihren Lieblingsplatz im Snoezelen-Raum für nach dem Mittagessen. Diese unterschiedlichsten Bedürfnisse haben im Atrium Platz. Sie werden von den Betreuer*innen aufgenommen und nach Möglichkeiten umgesetzt. Mit Hinwendung, Geduld und viel Liebe verwandeln sie das Atrium in einen Ort, der von Wohlbefinden geprägt ist.
*alle Namen der Tagesgäste im Text sind geändert. Diese Reportage entstand anlässlich eines Besuchs im Atrium am 15. Oktober 2021.
Maren Stotz
Lesen Sie auch den Beitrag «Sinne werden nicht dement» vom 23. November 2023.